Schiff-Ahoi! mit der Hamburger Hafenlesung
Noch keine Sommerpläne? Dann können wir einen Abstecher nach Hamburg empfehlen. Grund dafür gibt beispielsweise die Hamburger Hafenlesung – ein Format, das Grenzen überschreitet und einen Ausnahmezustand schafft. – Ein Portrait.

Seit 2015 organisiert ihr als foundintranslation Autorenkollektiv die Hamburger Hafenlesung. Was zeichnet das Format aus?
Jonis Hartmann: Im April 2015 fand die erste Hafenlesung als Lesefest mit insgesamt 13 Autoren statt. Die Lesung beinhaltete – lustigerweise eher zufällig – schon alle Komponenten, die die Hafenlesungen heute auszeichnen: Mehrsprachigkeit, offene Texte/ Genres, Generationen-/ Werkübergreifendes Line-up, extrem niedriger Eintritt (3 Euro) (und somit für alle Klassenschichten zugänglich), Hamburger und Nichthamburger AutorInnen (jeder hatte drei nominiert) und veganes Catering als Teil des Konzeptes inklusive. Die enorme Besucherzahl von 140 zahlenden Gästen hatte schnell zu einer ernsthaften Auswertung geführt und wir haben unser Konzept spezifiziert und im selben Jahr noch drei weitere Lesungen durchgeführt, die ähnlich gut besucht waren. Nach der Einladung zu den Unabhängigen Lesereihen haben wir uns weiter professionalisiert und das Organisatoren Team verstärkt. Heute agieren wir als fünfköpfiges Autorenkollektiv (Tomás Cohen (Chile), Hugh James (Neuseeland), Jonis Hartmann (Deutschland), Lubi Barre (USA) und Nefeli Kavouras (Griechenland) unter dem Namen foundintranslation: wir übersetzen uns gegenseitig, sprechen als lingua franca auf Englisch und verstehen uns als Mini-Welt. Die Herkunft, die Tätigkeiten wie auch das Mitgliederalter (von 21 bis 35) ist unterschiedlich. Uns ist gemein, dass wir uns alle als AutorInnen verstehen (Prosa, Lyrik, Bühne, Essay).
Welche Ziele verfolgt ihr mit der Hafenlesung? Wer ist eure Zielgruppe?
Jonis Hartmann: Wir wollen die Hamburger Literaturlandschaft, um genau das bereichern, was die Hafenlesung kann: eine Stimmung heraufbeschwören, bei der Sprachen, Kulturen, AutorInnen, ZuhörerInnen sich derart vermengen, dass sogenannte Grenzen wie aufgehoben scheinen. Alle treffen sich beim Essen, an der Bar, vor und nach der Lesung, lauschen konzentriert und kommen geduldig damit klar, auch einmal etwas nicht zu verstehen. Sondern eben das Schreiben und Sprechen in Sprache als eine Kulturform zu bewundern, die ähnlich einem Musikbeitrag funktioniert voller Rhythmus, Melodie und Tönen. Wir lieben es, wenn junge Menschen neben älteren sitzen und Sprachkursbesucher plötzlich neben Buchhändlern. Oder zufällig hereingelaufene Clubber, die eigentlich das Golem als Nachtlebenfixpunkt schätzen. Wir wollen einen Ausnahmezustand in einem besonderen Raum schaffen und laden alle dazu ein. Herkunft und Tätigkeit könnten nicht egaler sein und wenn etwas überspringt: d.h. sich Leute trauen, einander anzusprechen, weil sie alle zusammen das erste Mal ein Gedicht auf Bahasa Indonesia hören oder in einen veganen Nachtisch beißen und sich dabei anlächeln, dann haben wir unser Ziel erreicht, einen Nährboden anzubieten. Der Rest (Netzwerke, Einladungen, Buchkäufe, Wiederkommenwollen) gedeiht dann von allein.
Pro Ausgabe bringt ihr vier Originalsprachen auf die Bühne - wie muss man sich einen Abend bei euch konkret vorstellen?
Jonis Hartmann: Die Lesungen sind verhältnismäßig kurz, ungefähr 10 – 15 Minuten. Das garantiert, dass wenn man partout nichts versteht, man nicht allzu lange auszuhalten hat und vielleicht den nächsten Beitrag wieder schätzt. Wir schneiden schnell zwischen den Texten und Leuten hin und her, sodass der Nachklang der VorgängerIn noch in die NachfolgerIn hineinragt. Das lässt ein gewisses Knistern und gegenseitiges Ertüchtigen zwischen den Beiträgen entstehen. Die Relation beginnt ein Eigenleben zu führen und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Oft sind es sogar noch mehr Sprachen. Meistens wechseln wir uns mit der Moderation ab. Wir gehen davon aus, dass die meisten im Raum entweder Deutsch oder Englisch verstehen und moderieren dann jeweils im Wechsel in einer der beiden Sprachen an. Durch die angebotenen Übersetzungen versuchen wir, das Phänomen des lost in translation einzudämmen.
Sind 4 Sprachen pro Abend nicht eine Überdosis?
Jonis Hartmann: Ja. Aber wir in Hamburg sind es satt, nur kalkulierten Kommerz zu bekommen und wollen ein Stück experimentelle, kuratorische Freiheit leben, indem wir gern das Gegenteil von dem machen, was als "vernünftig, zeitgemäß oder maßvoll" zu gelten hat. Wir wollen nicht immer an morgen denken, oder das nächste Mal, sondern geben und zelebrieren. Die Welt ist groß und es ist irrepräsentativ, sie zu dosieren und in feinen Häppchen zu servieren, als sei sie eine geistige Gourmet-Basis. Sie ist komplex und überfordernd und darin kann genau das Potential liegen, sich ihr zu nähern, sich in ihr zurechtzufinden und gemeinsam "im selben Boot zu sitzen". Wir alle wollen Literatur leben. Das ist die einzige Sprache. Wir verstehen uns in diesem einen Raum, auch wenn das etwas mystisch klingen mag.
Welche Sprachen hattet ihr schon - und welche sind ganz schwer zu kriegen?
Jonis Hartmann: Wir hatten häufig Spanisch, Russisch, Arabisch, Schwedisch zu Gast. Und dann immer wieder Sprachen wie Bulgarisch, Ungarisch, Portugiesisch. Seltener sind asiatische oder afrikanische Sprachen. Witzigerweise auch Französisch oder Italienisch.
Nach welchen Kriterien ladet ihr Autorinnen ein? Und wie findet ihr Autoren dieser Sprachen überhaupt?
Jonis Hartmann: Wir möchten gerne erfahrene AutorInnen mit unbekannteren mischen. Die Erfahrung zeigt, dass dies die größte gegenseitige Ertüchtigung bringt. Man bleibt nicht unter sich, sondern bekommt eben das jeweils andere mit. Das gilt auch für die ZuhörerInnen. Wir sind in Hamburg gut vernetzt und "entdecken" auch gerne mal jemanden, der noch keine Bühnenerfahrung hat. Andererseits "wildern" wir natürlich bei AutorInnen deutschlandweit, deren Werke wir kennen und schätzen. Dafür nutzen wir die gewachsenen Netzwerke, auch der unabhängigen Lesereihen. Und wenn wir von ausländischen AutorInnen hören, dass sie gerade wegen eines Festivals oder Stipendiums sich in Deutschland aufhalten, laden wir sie ein. Wir reisen selbst oft, und lernen auf diese Weise ebenfalls neue potentielle LeserInnen kennen. Andere bekommen wir über Empfehlungen, auch von Leuten, die schon bei uns gelesen haben.
Wie nimmt das Publikum das Format auf?
Jonis Hartmann: In der Regel mit Erstaunen. Es sind auch immer mal wieder Leute gegangen. Aber das ist normal, und betrifft jede Kunst. Das Verrückte ist eigentlich, dass eine enorme Aufmerksamkeit während der Lesungen erzeugt wird. Abgesehen vom Eingangsbereich, in dem auch mal gequatscht wird, kann man eigentlich eine Stecknadel fallen hören. Wir drucken für jede Lesung einen kleinen Leporello mit Bios und Hintergrundinfos zu den LeserInnen, moderieren kurz an und dann ist eigentlich die Sprache selbst auf der Bühne.
Wer kommt an eure Lesungen? Geht euer Publikum auch ins Literaturhaus oder war es auch ein Ziel von euch niederschwelliger zu sein?
Jonis Hartmann: Am besten geht unser Publikum überall hin. Uns ist wichtig, eine eigene Alternative zu schaffen, ein eigenes Format. Es ist vielleicht eine Mischung aus Underground, niedrigschwellig oder wie man das eben nennt und im Line-up immer wieder große Namen, die selbst im Literaturhaus Einzellesungen haben. Es ist schon eine Art (Kultur-) Politikum. Wir wollen beweisen, das Literatur für jeden da ist, keinerlei Exklusivität aufweisen muss, und AutorInnen wie Elke Erb, Nora Gomringer oder Frank Spilker kein Problem damit haben, bei uns im Golem zu lesen.
Was ist / sind die grösste(n) Herausforderung(en) an eurem Konzept?
Jonis Hartmann: Wir haben dieses Jahr Förderung von drei unterschiedlichen städtischen Töpfen, die vor allem die Honorare und Reisekosten der LeserInnen decken, sowie die materiellen Durchführungskosten jeder Lesung. Eine Organisationspauschale an uns gibt es bisher nicht, aber Kosten für Gestaltung der Drucksachen oder Moderation geht zu unseren Händen. Dennoch sammeln wir Spenden. Dies ist gleichzeitig die größte Herausforderung: bei dem immensen Aufwand je Lesung eine adäquate Vergütung auch im professionellen Sinne durchzusetzen. Wir kämpfen jedes Jahr neu. Auch um eine angemessene Berichterstattung. Denn obwohl solch eine ur-hamburgische Affäre und Erfolgsgeschichte wie die Hafenlesung viel bewegt hat in kurzer Zeit, gibt es bisher nur wenigsätzige Ankündigungen oder Statements in den Medien. Auch hier kämpfen wir um Anerkennung. Anerkennung im Sinne von: das Konzept ist tragfähig, die Veranstaltungen sind schön, die Atmosphäre ist einzigartig, wir möchten gern noch mehr Leute erreichen – es geht uns nicht um ein eitles wir-habens-gemacht-und-sind-jung-und-schreiben-selbst etc.
Die nächste Hafenlesung findet am 19.10. 2017 statt, u.a. mit Jeffrey Yang, Aurélie Maurin und Anja Kampmann. Mehr Informationen findet ihr hier.