Rebecca Gisler
(*1991 in Zürich) studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und anschließend im Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris 8. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch; Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien. Ihr Debütroman Vom Onkel (Atlantis Verlag 2022), den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, erschien im Herbst 2021 unter dem Titel «D’oncle» in Frankreich und wurde für mehrere Literaturpreise, u.a. für den Prix Les Inrockuptibles, nominiert. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann sie 2020 den Open Mike in Berlin. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.
Moderation: Anna Chudozilov
«Vom Onkel»
Früher, wenn der Onkel Indianerschmuck und Piratenschwerter gebastelt hatte, waren sie wie drei Kinder, den ganzen Sommer lang. Jetzt, mit 52, pfeift der Onkel schon aus allen Löchern. Nichte und Neffe haben kurzerhand beschlossen, ins weiße Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Eine WG in der Bretagne, am Ende der Welt. Der Onkel badet nie, mit der Metallplatte in seiner Hüfte schafft er es nicht mehr über die Felsen ans Meer. Höchstens fährt er mit dem Roller zum Supermarkt, wo es Wurst und Cola gibt. Aber am liebsten bleibt er in seinem Zimmer – Betreten verboten! – und schaut fern. Während der Bruder sich die meiste Zeit den Blattläusen an den frisch gepflanzten Obstbäumen widmet, erkundet die Schwester die in dreißig Jahren Alleinleben entwickelten Eigenarten des Onkels. Nach und nach breitet sich eine etwas ungemütliche Familienlandschaft aus. Ein flimmerndes, vielschichtiges, berührendes Debüt, das mit originellen Figuren besticht und durch seinen rhythmischen erzählerischen Atem einen starken Sog auslöst.